Interview: „Mit Blockchain könnten komplett neue Regeln der digitalen Zusammenarbeit zwischen Unternehmen entstehen“
Im Interview Ende vergangenen Jahres sprach Ralf Knobloch, Blockchain-Experte der SupplyOn Group, über das Potenzial der Blockchain-Technologie für das Supply Chain Management. Dieses Mal haben wir mit ihm darüber geredet, anhand welcher Kriterien er einen möglichen Blockchain Use Cases vorab auf seine Tauglichkeit und Wirtschaftlichkeit prüft.
Vertrauen ist der Dreh- und Angelpunkt
Ralf, um den Faden wieder aufzugreifen: Du sagtest im letzten Gespräch, dass ihr für jeden einzelnen Fall den Nutzen der Technologie kritisch hinterfragt. Wann lohnt sich also eine solche Distributed-Leger-Anwendung (DLT)?
Wenn ich Blockchain-Technologie einsetze, sollte dadurch ein funktionaler oder wirtschaftlicher Mehrwert zu erzielen sein, den ich mit herkömmlichen zentralen IT-Systemen nicht erreiche. Dreh- und Angelpunkt ist das Vertrauen in die unterschiedlichen Geschäftspartner entlang der Wertschöpfungskette. Oder eben der Aufwand, der betrieben werden muss, um dieses Vertrauen zu gewinnen und zu sichern.
Ist dieser Aufwand durch die Blockchain geringer als beispielsweise durch eine zentrale Datenbanklösung, dann lohnt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit rein wirtschaftlich gesehen der Einsatz der Distributed-Ledger-Technologie. Natürlich müssen dazu auch die funktionalen Erfordernisse erfüllt sein. Man könnte auch sagen: Blockchain bringt überall da Nutzen, wo ich die Grenzen von Vertrauensdomänen überschreite.
Was bedeutet das für das Supply Chain Management?
Im Supply Chain Management sind qualitativ hochwertige Daten für einen funktionierenden Material- und Informationsfluss unabdingbar. Die Daten müssen korrekt, aktuell, konsistent und vollständig sein. Sie geben unter anderem Auskunft über die Verfügbarkeit von Waren und Dienstleistungen und über die Zuverlässigkeit des jeweiligen Teilnehmers innerhalb des Wertschöpfungsprozesses.
Die zentrale Frage lautet also: Kenne ich alle Teilnehmer, habe ich alle wichtigen Infos und weiß zudem, dass ich ihnen vertrauen kann? Dann benötige ich keine Blockchain-Technologie.
Doch wenn ich mich als Unternehmen neuen Kooperationspartnern öffnen will, die mir nicht in allen wichtigen Details bekannt sind, dann entsteht Aufwand, weil ich sie überprüfen muss, um mich abzusichern. In der Regel übertrage ich diese Aufgabe einem Intermediär wie SupplyOn, der die Daten anfordert, prüft, sie in eine mir zugängliche zentrale Datenbank einspeist, dort auch verwaltet und die notwendigen Vereinbarungen oder Verträge mit dem neuen Partner organisiert. Auf der Plattform von SupplyOn beispielsweise sind die aktuellen Stammdaten von mehr als 65.000 Unternehmen hinterlegt, die darüber ihre Geschäfte miteinander abwickeln.
Digitale Identität sichert Vertrauen
Je nach Komplexität der Supply-Chain-Prozesse oder den Kriterien für potenzielle neue Geschäftspartner kann es jedoch sinnvoll sein, statt einer zentralen Datenbank eine dezentrale Blockchain-Lösung zu nutzen, in der Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit usw. schon durch die digitale Identität der Teilnehmer hinterlegt und gesichert sind. Das heißt, der potenzielle neue Geschäftspartner hat bereits einen Authentifizierungsprozess durchlaufen, seine Daten sind geprüft und valide. Das spiegelt die digitale Identität wider.
Eine Distributed-Ledger-Anwendung (DLT) ist dann unter Umständen kostengünstiger und bietet möglicherweise zusätzliche Funktionen, die helfen, die Effizienz in den Prozessen zu steigern. Das können beispielsweise automatisierte Vertragsabschlüsse, sogenannte Smart Contracts, oder automatisierte Datenfreigabe-Mechanismen sein, die bei einem Cloud-basierten System, in einem herkömmlichen Benutzerportal oder einer unternehmensspezifischen Architektur extra programmiert werden müssten.
Einsatz von Blockchain im konkreten Fall evaluieren
Im letzten Blogbeitrag erwähntest du, dass ihr anhand eines verästelten Entscheidungsbaums die konkreten Use Cases danach bewertet, ob sie für Blockchain geeignet sind. Wie ist dieser aufgebaut?
Er besteht aus etlichen Fragen, die mit Ja oder Nein beantwortet werden können und dann entweder zur nächsten Frage führen oder letztendlich zur Entscheidung für oder gegen die Blockchain. Betrachtet werden Kriterien wie Datengleichheit, verteilter Zugriff auf diese Daten, Automatisierbarkeit des Vertrauens, Verzicht auf zentrale Instanzen und dezentrale Validierung von Informationen.
Kernfragen, die alle mit Ja zu beantworten wären, um die Blockchain-Technologie zu favorisieren, sind:
- Lassen sich für den Anwendungsfall klar definierte Datenstrukturen bilden?
- Benötigen verschiedene Parteien unabhängig voneinander Zugang auf diese Daten?
- Werden die zu verarbeitenden Daten von mehreren gleichgestellten Parteien bearbeitet oder unabhängig voneinander aktualisiert?
- Kann der Prozess der „Vertrauensbildung” automatisiert werden? Das heißt, lassen sich im Konsens Geschäftsregeln ohne manuelle bzw. menschliche Interaktion festlegen?
- Soll eine lückenlose Nachvollziehbarkeit der Datenhistorie dezentral und unveränderlich gespeichert werden?
Und schließlich:
- Soll die Validierung der Daten oder Transaktionen dezentral ausgeführt werden?
Als grobe Orientierung kann auch der folgende von der ETH Zürich entwickelte Entscheidungsbaum dienen:
Daten lassen sich vor fremden Blicken schützen
In diesem Modell der ETH Eidgenössischen Technischen Hochschule wird zwischen öffentlichen und privaten Blockchains unterschieden. Bei privaten Blockchains sind im Gegensatz zur öffentlichen (public) Version die Teilnehmer bekannt. Wie flexibel ist die Technologie?
Sie ist sehr flexibel. Je nach technischer Ausgestaltung kann eine Blockchain komplett öffentlich, also public, sein oder nur einer bestimmten Nutzergruppe, also einem Konsortium, offenstehen. Und es gibt auch hybride Mischformen aus beiden. Auf Basis eines speziellen Datenverschlüsselungssystems sehen die Teilnehmer nur die Daten, die für sie auch relevant sind und für die sie eine Berechtigung haben. Das ist beispielsweise dann sinnvoll, wenn zu viel Transparenz Mitbewerbern Wettbewerbsvorteile verschaffen könnte.
Meine Daten sind in der Blockchain also nicht zwingend für alle Teilnehmer einsehbar?
Genau. Wenn ich in der Blockchain zum Beispiel meine Stammdaten verwalte, kann ich stets selbst entscheiden, wem ich wann für welchen Zeitraum und unter welchen Umständen Zugriff auf eine bestimmte Auswahl von Daten gewähre. Anders gesagt: Die Blockchain-Technologie macht es möglich, dass ich immer Herr meiner eigenen Daten bleibe.
Du meintest, dass es für eine Entscheidung zugunsten der Blockchain-Technologie wichtig sei, dass sich im Konsens feste Geschäftsregeln definieren lassen. Könnte das nicht sehr schwierig sein, wenn die Teilnehmerzahl sehr hoch ist? Wenn beispielsweise ein Software-Update nicht von allen mitgetragen wird, droht dann die Spaltung der Kette?
Dieses Risiko gibt es sowohl in der Public Blockchain als auch in einer geschlossenen Konsortial-Blockchain. Eine Spaltung in einer Public Blockchain ist sogar schon vorgekommen, zum Beispiel in der öffentlichen Ethereum Blockchain. Dann entstehen unterschiedliche unabhängige Ketten, die nicht miteinander korrespondieren.
Bei einer Konsortial-Blockchain, die nur einer begrenzten Zahl von Teilnehmern offensteht, ist das eher unwahrscheinlich. Trotzdem ist es grundsätzlich möglich sofern keine Einigkeit, sprich „Consensus“, zwischen denjenigen Teilnehmern hergestellt werden kann, die über die Governance einer Konsortial-Blockchain entscheiden.
Die Governance-Regeln, die alle Teilnehmer mittragen und beachten, spielen also eine ganz wichtige Rolle. Dafür werden Konsens-Algorithmen in die Blockchain implementiert, die das Einhalten dieser Regeln gewährleisten. Wenn etwas verändert werden soll, zum Beispiel eine neue Software aufzuspielen ist, müssen alle mitmachen. Das kann dann automatisch erfolgen, wenn es im Vorfeld so beschlossen wurde. Oder es gibt ein Abstimmungsverfahren zur geplanten Veränderung. Dann wird über Voting-Mechanismen entschieden, ob es dazu kommen soll oder eben nicht.
Dieses Feld der Partizipationsmöglichkeiten in der Blockchain ist sehr spannend und wird beispielsweise von einem SupplyOn-Kunden intensiv untersucht. Denn es könnten komplett neue Regeln der digitalen Zusammenarbeit zwischen Unternehmen entstehen. Vielleicht lassen sich damit auch Monopol-Strukturen und -Plattformen überwinden wie Google, Facebook und Amazon, die uns bislang vorgeben, wie wir uns zu verhalten haben, um nicht vom Geschäft abgeschnitten zu werden. Für das digitale Business könnten also genossenschaftliche, demokratische und auf Votings basierende Vorgehen an Bedeutung gewinnen.
Dezentrale Transaktionsplattform geplant
Im Interview Ende 2018 hast du erste Konzepte im Rahmen von Pilot-Projekten angekündigt. Wie ist hier der Stand der Dinge?
Wir bauen unter anderem gerade einen Prototyp, um Supplier-Collaboration-Daten in der Blockchain abzulegen und verfügbar zu machen. Wir pflegen dafür validierte Daten ein verschlüsseln diese und könnten sie dann über die Blockchain kostenlos oder gegen Gebühr bestimmten Zielgruppen zur Verfügung stellen.
Wichtig ist uns, ein Anreizsystem zu finden, damit Firmen diesen Service nutzen bzw. ihre eigenen Daten zur Verfügung stellen und aktuell halten. Ein Anreiz kann sein, darüber neues Geschäft zu generieren.
Auch werden nützliche Funktionen integriert: automatisierte Abläufe, aber auch bestehende Services von SupplyOn, wie die elektronische Auftragsabwicklung oder das Transportmanagement. Wenn Unternehmen hier weitere Daten einpflegen entsteht mit der Zeit eine umfangreiche dezentrale Transaktionsplattform auf Blockchain-Basis.
Es gibt noch weitere Ideen, aber wir wollen zuerst damit Erfahrung sammeln.
Vielen Dank für die spannenden Einblicke, Ralf. Wir freuen uns schon darauf zu berichten, wie es damit weitergeht.