Reduzierte Kapitalbindung trotz hoher Versorgungssicherheit – Wie geht das? (Teil 1)
Die obige Fragestellung ist wahrscheinlich wesentlich älter als der Begriff ‚Supply Chain Management‘, der Anfang der 80er-Jahre auftauchte, sich in den 90er-Jahre stark verbreitete und um die Jahrtausendwende zu einem feststehenden Management-Begriff wurde.
Es soll hier nicht darüber spekuliert werden, ab wann genau man sich dediziert und in wissenschaftlicher Art und Weise mit dieser Fragestellung auseinandersetzte. Gewiss ist, dass das Thema mit zunehmender Globalisierung, stärker werdendem globalem Wettbewerb und abnehmender Wertschöpfungstiefe über die letzten 15 Jahre stetig an Bedeutung zugenommen hat.
Gebundenes Kapital in Form von Beständen reduziert die frei verfügbaren Barmittelreserven und beschränkt damit die unternehmerische Handlungs- und Investitionsfreiheit, sowie die Flexibilität und Agilität (siehe auch Wikipedia: Business Agility). Darüber hinaus haben der Bestandspegel und daraus resultierende Kosten für die Lagerung und das Handling der Waren und Güter einen direkten Einfluss auf das Unternehmensergebnis. Eine Senkung der Bestände führt, bei gleichzeitiger Vermeidung von kritischen Abrissen in der Versorgung, im Normalfall zu einem besseren Unternehmensergebnis und zu einer höheren Eigenkapitalrendite.
Die Qualität der Synchronisierung der Materialflüsse bestimmt die Bestandshöhe
Die Bestandshöhe an einer bestimmten Stelle in einem Versorgungsnetzwerk wird bestimmt durch den Prozess der Synchronisierung der Materialflüsse zwischen zwei Wertschöpfungsstufen. Somit ist die Bestandshöhe in einem Unternehmen das direkte Ergebnis davon, wie gut es gelingt, Waren- und Materialströme über das gesamte Netzwerk über alle Stufen aufeinander abzustimmen und möglichst gleichmäßig fließen zu lassen. Dabei gibt es konkurrierende Aspekte, die im Sinne eines Gesamtoptimums unter wirtschaftlichen Aspekten gegeneinander abgewogen werden müssen. In Summe ist dies ein sehr komplexer Prozess, bei dem alle Aspekte von der Bedarfsprognose über die Produktions- bis hin zur Kapazitätsplanung auf Lieferantenseite einzubeziehen sind.
Das folgende vereinfachende Beispiel zeigt auf, wie sich die Veränderung der Belieferungsfrequenz auf die Bestandshöhe auswirkt. Im Bild repräsentieren die Dreiecke die Ein- und Ausgangslager einer Produktion. Das Eingangslager wird von mehreren Lieferanten beliefert. Der Bestand im Eingangslager ist bei wöchentlich gleichen Zu- und Ablaufmengen umso höher, je unterschiedlicher die Frequenz zwischen der Belieferung durch die Lieferanten und der Entnahme der Teile durch die Produktion ist.
Bei regelmäßiger, untertägiger Entnahme aus dem Lager durch die Produktion ist der durchschnittliche Bestand bei wöchentlicher Belieferung durch die Lieferanten (Montags) um über 140% höher, als bei dreimaliger Belieferung pro Woche (Montags, Mittwochs, Freitags). Die Erhöhung der Belieferungsfrequenz eines Lagers hat somit, bei gleicher wöchentlicher Belieferungsmenge, erhebliche Auswirkungen auf die Bestandshöhe.
Die folgenden Schaubilder zeigen den idealisierten Bestandsverlauf und den Durchschnittsbestand im Eingangslager bei einmaliger Belieferung pro Woche (oben) und bei dreimaliger Belieferung pro Woche (unten) über einen Zeitraum von fünf Wochen. Der Wochenverbrauch wurde darin mit 10.000 Stück und der Initialbestand mit 2.000 Stück angenommen. Schon beim ersten Blick auf die Grafiken wird deutlich, dass eine höherfrequente Belieferung (unteres Schaubild) die Bestandshöhe drastisch reduziert.
Durch die Erhöhung der Belieferungshäufigkeit sinkt der durchschnittliche Bestand in diesem Beispiel von ca. 4.900 Stück auf 2.000 Stück. Bei einem angenommenen Teilewert von 100 EUR reduziert sich damit die durchschnittliche Kapitalbindung von 490.000 EUR auf 200.000 EUR fast um das Zweieinhalbfache.
Mit der Verringerung der Teilemengen im Wareneingangslager sinken auch die vorzusehenden Lagerflächen und -volumina. Auf der anderen Seite können sich durch mehr Belieferungen die Transportkosten und die Koordinationsaufwände erhöhen, wodurch die Vorteile entsprechend geringer werden.
Auch die Verteilung der Anlieferungen auf unterschiedliche Wochentage hat bei den getroffenen Annahmen eine beträchtliche Auswirkung auf die Qualität der Synchronisierung und damit die Bestandshöhe. Anlieferungen am Montag, Dienstag und Mittwoch (oben) resultieren, verglichen mit Anlieferungen am Montag, Mittwoch und Freitag (unten), in 33% höheren Beständen.
Um derartige, einfach anmutende Anpassungen jedoch überhaupt realisieren zu können, braucht man schnelle, flexible und gut automatisierte Prozesse. Papierbasierte Abläufe und Medienbrüche wirken in diesem Zusammenhang als effektive Bremsen, die oftmals nur schwierig beseitigt werden können.
Papierbehaftete, langsame Prozesse führen zu überhöhten Beständen
Die Ursache für eine mangelnde Materialfluss-Synchronität liegt häufig in der Langsamkeit und Umständlichkeit der Prozesse in einem Unternehmen begründet. Dort, wo vieles papierbehaftet und manuell gemacht wird, hat man allein aus Zeitgründen gar nicht die Option, die Synchronität der Materialflüsse durch die Erhöhung und bessere Abstimmung der Bewegungsfrequenzen zu verbessern. Denn damit ist auch eine Erhöhung der zu initiierenden und zu überwachenden Tätigkeiten verbunden. Eine Bestellung über 6.000 Stück mit Anlieferung am Montag geht schneller und ist einfacher zu koordinieren und abzuwickeln als drei Bestellungen über 2.000 Stück an verschiedenen Tagen der Woche.
Will man mehr Vorgänge über dieselbe Zahl von Mitarbeitern abwickeln, braucht man schnellere, transparentere und effizientere Abläufe. Erreicht man diese nicht, können allein aufgrund der bestehenden Trägheit nach dem oben beschriebenen Muster überhöhte Bestände entstehen.
Intransparenz, Unsicherheiten und Risiken führen zusätzlich zum Aufbau von Sicherheitsbeständen
Wenn darüber hinaus Sendungen von bestimmten Lieferanten oder aus bestimmten Regionen wiederkehrend nicht den zeitlichen, qualitativen oder mengenmäßigen Vorgaben entsprechen, ist der Aufbau von zusätzlichen Sicherheitsbeständen unumgänglich, um die Versorgung der Produktion störungsfrei aufrecht erhalten zu können. Solche Unregelmäßigkeiten können vielfältige Ursachen haben. Hierzu gehören unzuverlässige oder geschäftsgefährdete Lieferanten und Logistik-Dienstleister, sowie allgemeine, kaum steuerbare Risiken, wie Unfälle, Maschinenausfälle oder gar Umweltkatastrophen wie Erdbeben, wodurch ganze Regionen ausfallen können.
Im Allgemeinen gilt: Je höher die unkontrollierbaren Risiken sind, je mehr unkontrollierbare Risiken bestehen und je wichtiger ein Zulieferteil für die eigene Wertschöpfung ist, desto stärker ist die Neigung eines Unternehmens, Sicherheitsbestände für ein bestimmtes Bauteil oder eine Warengruppe aufzubauen, um kritische Versorgungsabrisse und Sondermaßnahmen zu verhindern.
Besonders hoch fallen die Sicherheitsbestände im Inbound-Bereich von Unternehmen aus, die eine ungenügende oder überhaupt keine Transparenz über die Versorgungslage haben. Viele Unternehmen sind bis zur Entladung der LKWs im Wareneingang fast gänzlich im Blindflug unterwegs, d.h. sie wissen nicht, was unterwegs ist, und stellen mangelnde Teilemengen dementsprechend erst fest, wenn es keine planerischen Möglichkeiten zur Mängelbeseitigung mehr gibt.
Die Folge sind extrem teure Sondermaßnahmen wie kurzfristige Änderungen des Produktionsprogramms mit allen sich daraus ergebenden Folgen, Sondertransporte oder sogar Produktionsausfall mit resultierenden Verspätungen bei der Kundenbelieferung.
Wie können Unternehmen die Situation verbessern, also die Versorgungssicherheit bei gleichzeitig reduzierter Kapitalbindung aufrechterhalten? Verschiedene Möglichkeiten werden im zweiten Teil des Blog-Beitrags aufgezeigt.
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