Interview: „Standardisierung und Automatisierung bieten große Chancen für die Bahnindustrie“
Die Bahnindustrie wird immer digitaler und setzt in vielen Bereichen neue, innovative Technologien ein. Wir sprachen mit André Truszkowski-Jonas, verantwortlich für Business Excellence bei Siemens Mobility, über die aktuellen Trends, die Vorteile einer Bahn-Community und die Bedeutung von Standards für die Branche.
Herr Truszkowski-Jonas, Sie beschäftigen sich bei Siemens Mobility schon lange mit neuen, digitalen Technologien. Welche Themen treiben hier die Bahnbranche besonders um?
Das große Thema ist die Digitalisierung von ganzen Produkten in der Bahnindustrie, aber auch von der Infrastruktur – etwa Weichenantriebe mit Sensoren. Das geht hin bis zu „Wie bekommt man ein Stellwerk in die Cloud?“
Bei den Fahrzeugen selbst sind wir daran, diese mit einer gewissen Intelligenz auszustatten. Unsere Vision ist, dass in Zukunft mit Hilfe von Algorithmen und künstlicher Intelligenz beispielsweise dem Zugfahrer signalisiert werden kann, wie er effizienter fährt. Etwa, dass er die Bremsbeläge überdurchschnittlich stark verbraucht, weil er immer zu stark abbremst.
An solchen Themen arbeitet aber natürlich eine ganze Community in der Bahnindustrie.
Stichwort Community: Was verbirgt sich dahinter?
Um ein paar Zahlen zu nennen: Allein bei Siemens haben wir 25.000 Fahrzeuge im Betrieb. Dazu kommen die Waggons. Unter diesen befinden sich jeweils zwei Drehgestelle mit wiederum je zwei Achsen. An jeder dieser Achsen sind zwei Räder. Das summiert sich schnell auf eine halbe Million Räder. Jedes dieser Räder hat eine Bremse – und allein an diesen Bremsen arbeiten zehn bis fünfzehn Firmen.
Insgesamt sprechen wir also von einem großen Netzwerk für diese riesige Infrastruktur mit tausenden Lieferanten. Wir haben in unserem ERP seit 1996 76.000 Lieferanten angelegt, von denen 50.000 heute noch eine Rolle spielen. Natürlich pflegen wir nicht mit allen eine enge tagtägliche Geschäftsbeziehung. Aber wir haben in der Bahnindustrie sehr langjährige Lieferantenbeziehungen. In den meisten Lieferverträgen ist eine Lieferverpflichtung von 30 bis 35 Jahren vereinbart für den Fall, dass Teile kaputtgehen. Daher bleiben diese 50.000 Lieferanten auch noch weiter wichtig für uns.
Um diese Lieferantenbeziehungen in all ihrer Komplexität effizient zu managen, brauchen wir optimierte Abläufe und Supply Chains. Natürlich hätten wir das auch alleine angehen können. Aber letztlich haben wir in der Bahnindustrie alle das gleiche Problem: Keiner will Papierrechnungen, kaum einer noch ausgedruckte Dokumente.
Wenn wir aber alle die gleichen Probleme haben und sich unsere Lieferanten und Kunden überschneiden, dann ist es doch viel effizienter auf Standards zu setzen, die wir alle nutzen können. Von denen wir somit alle gemeinsam profitieren. Und genau über diese Themen, die uns alle bewegen, und auf welche Standards wir in Zukunft setzen wollen, sprechen wir mit den anderen Beteiligten in der Bahnbranche – sprich in der Community.
Standards stellen einen großen Nutzen für die Bahnindustrie dar
Wie wichtig sind Standards für Sie bzw. für die Bahnindustrie als Ganzes?
Das Thema Standardisierung brennt uns allen unter den Nägeln. Keiner möchte unzählige Portale bedienen. Daher müssen wir uns auf Schnittstellen und gemeinsame Standards einigen. Das war auch der Hintergedanke der RailSupply-Initiative, die die Deutsche Bahn 2013 gemeinsam mit SupplyOn sowie uns und Bombardier Transportation ins Leben gerufen hat.
Wir haben einmal ausgerechnet, wie viel Tausend Blatt Papier und Tonnen an CO2 wir bei Siemens Mobility pro Jahr durch die Digitalisierung und Standardisierung mit SupplyOn einsparen. Das Ergebnis war sehr hoch – und dabei haben wir damals nur einen Prozess betrachtet. Wenn man das auf zehn Prozesse und tausend Lieferanten oder 150 große Kunden hochrechnet, sind die Potenziale allein bei uns schon enorm.
Das ist das Entscheidende, warum wir auch weiter auf Standards setzen und Partner suchen, die uns in Richtung Digitalisierung voranbringen. Firmen wie SupplyOn, die sich um Standardisierung kümmern und diese vorantreiben, stellen also einen großen Nutzen für die gesamte Bahnbranche dar.
Wo sehen Sie noch Potenzial in Punkto Digitalisierung und Standardisierung?
Wir müssen in der Bahnindustrie noch weiter an komplett digitalen Supply Chains arbeiten, die über die klassischen Bestellungen und Rechnungen hinausgehen. Denn hinter den Geschäftsprozessen liegt noch viel, viel mehr – gerade wenn wir weiter in Richtung Produkte denken.
Da sind Themen wie Rückverfolgbarkeit oder elektronische Fahrzeugakte, um die wichtigsten zwei zu nennen, die mich gerade umtreiben. Im Endeffekt geht es darum sicherzustellen, dass über einen Lebenszyklus von einem Produkt von 30 bis 35 Jahren alles elektronisch zur Verfügung steht. Wir treiben das gerade mit unserem Projekt mit dem Rhein-Ruhr-Express in Dortmund voran, bei dem alles gänzlich papierlos ablaufen soll.
Doch selbst mit digitalen Prozessen, die vom elektronischen Dokumentenaustausch bis hin zu einem virtuellen Depot mit 3D-Druck reichen, stehen wir mitunter vor Herausforderungen. So gibt es mancherorts eine manuelle Logistik, woanders einen manuellen Einkauf oder ein old-school Engineering. Genau an diesen Schnittstellen brauchen wir Partner und müssen uns auf gemeinsame Standards einigen.
Das ist glaube ich aber auch die größte Chance, die wir in der Bahnindustrie haben: Standardisierung und Automatisierung voranzutreiben und die Branche in Richtung 4.0 zu entwickeln.
Herzlichen Dank für das äußerst interessante Gespräch, Herr Truszkowski-Jonas!