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Supply Chain vs Supply Chain – Trifft das Paradigma der konkurrierenden Supply Chains zu?

Die Frage ist: Konkurrieren einzelne Unternehmen oder ganze Liefernetzwerke miteinander?
Die Frage ist: Konkurrieren einzelne Unternehmen oder ganze Liefernetzwerke miteinander?

“Supply Chain vs. Supply Chain – The Hype and the Reality”. Eine Kollegin hat kürzlich im Internet einen Artikel mit dieser Überschrift entdeckt, den ich aus mehreren Gründen für sehr interessant und auch relevant erachte. Zum einen wurde dieser bereits im Jahr 2001, also vor 16 Jahren, im Fachmagazin ‚Supply Chain Management Review‘ (www.scmr.com) veröffentlicht.

Das war zu einer Zeit, als der Begriff ‚Supply Chain Management‘ noch nicht durchgängig etabliert und die Abgrenzung vom Thema ‚Logistik‘ allenfalls schwammig vollzogen war. Der ‚Council of Supply Chain Management Professionals‘ (CSCMP) hieß damals noch ‚CLM‘ (Council of Logistics Management) und die Wertschöpfungsnetzwerke waren deutlich weniger global ausgerichtet. Russland, Indien und Brasilien waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht unter den 10 größten Volkswirtschaften der Welt und das Bruttoinlandsprodukt von China lag nur bei etwa einem Neuntel des heutigen Niveaus.

Wer konkurriert im Zeitalter der digitalen Supply Chain – einzelne Unternehmen oder ganze Liefernetzwerke?

Und dennoch stellte man aufgrund der zunehmenden Bedeutung des SCM bereits damals die Frage, ob zu erwarten sein würde, dass zukünftig nicht mehr einzelne Firmen sondern ganze Lieferketten bzw. Liefernetzwerke miteinander konkurrieren. Die Autoren des Artikels – James Rice (Director MIT – Integrated Supply Chain Management Program) und Richard Hoppe (McKinsey) – führten zu diesem Thema mit 30 Supply Chain Experten eine Befragung aus der Industrie, Bildung und Beratung durch.

70 % der Befragten waren sich darin einig, dass die Formulierung ‚Supply Chain gegen Supply Chain‘ die Praxis treffend beschreibt. Hiervon waren die Industrievertreter am stärksten überzeugt (75 %), gefolgt von den Beratern (72 %) und den Hochschulvertretern (60 %). Uneinig war man sich jedoch darin, was man unter diesem Begriff überhaupt versteht. Daraus geht hervor, dass es sich hierbei keinesfalls um eine triviale Themenstellung handelt.

Auslegungssache

IInsgesamt gab es drei sehr unterschiedliche Interpretationen des Themas ‚Supply Chain vs. Supply Chain‘:

Ob Einzelunternehmen oder Liefernetzwerke miteinander ist Ansichtssache
Ob Einzelunternehmen oder Liefernetzwerke miteinander konkurrieren ist Ansichtssache

Fall 1: Es konkurrieren unterschiedliche, klar abgrenzbare Lieferketten miteinander, im reinsten Sinne des Wortes (rund 40 % der Befragten).

Fall 2: Die Fähigkeiten der Liefernetzwerke einzelner Unternehmen (supply network capabilities) stehen in Konkurrenz zueinander (rund 37 % der Befragten). Im Mittelpunkt stehen dabei einerseits die internen Kosten oder Dienstleistungsfähigkeiten eines Liefernetzwerkes, welche sich über Begriffe wie ‚Effizienz‘, ‚Effektivität‘ und ‚Reaktionsfähigkeit‘ des Liefernetzwerks messen lassen. Zum anderen geht es hier um die interne Gestaltung des Liefernetzwerks (supply network design) in Bezug auf die grundlegende strategische Struktur und die praktizierten Beschaffungsmodelle, -prinzipien und -prozesse (Build-to-Stock oder Build-to-Order etc.).

Fall 3: Die Konkurrenz bezieht sich zwar auf die Fähigkeiten der individuellen Liefernetzwerke von Unternehmen, jedoch gibt hierbei die mächtigste Firma – der sog. Channel Master– den Takt vor (rund 23% der Befragten).

Somit zeigen bereits die doch sehr unterschiedlichen Interpretationen, dass es keine eindeutige Antwort auf die eingangs formulierte Frage gibt. Daher definierten die Autoren verschiedene Fälle, auf die das Paradigma der konkurrierenden Lieferketten – je nach Auslegung des Begriffs – mehr oder weniger gut zutrifft.

Abgegrenzte Herstellergemeinschaften ohne Überlappung der Lieferketten
Abgegrenzte Herstellergemeinschaften ohne Überlappung der Lieferketten

Gut zu passen scheint es für alle Lieferketten, bei denen es klar abgegrenzte Herstellergemeinschaften mit geringer oder nicht vorhandener Überlappung der Lieferanten in den diversen Stufen (‚Tiers‘) gibt. Hierzu zählte zum Zeitpunkt der Erstellung des Artikels (2001) beispielsweise die Mode-Branche.

 

Liefernetzwerke: Leistungsfähigkeit und Effizienz zählt

Die Automobil-Industrie mit ihrer Vielzahl an Lieferanten, die gleichzeitig vielen unterschiedlichen OEM-Netzwerken angehören, fällt hingegen in Kategorie 2. Nach Einschätzung der Autoren können sich die Liefernetzwerke vor allem hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit und Effizienz differenzieren. Dazu zählt besonders die Fähigkeit eines Unternehmens, die Leistungsfähigkeit und Einzigartigkeit seiner Kunden (downstream) und Zulieferer (upstream) zum eigenen Vorteil gegenüber den Wettbewerbern optimal auszunutzen.

Ertragreiche Felder sind in diesem Zusammenhang gemeinsame Programme zur Produktentwicklung, die Mitwirkung an innovativen Versorgungskonzepten (JIT, VMI etc.) oder auch gemeinsame Marketing-Aktivitäten.

Überlappende Liefernetzwerke
Überlappende Liefernetzwerke

Besonders wichtig dabei: Die gut funktionierende und effiziente Kollaboration zwischen den Partnern, die im digitalen Liefernetzwerk direkte Berührungspunkte haben. Es mag aus theoretischen Überlegungen heraus zielführend sein, übergreifende Konzepte für die Supply-Chain-Optimierung zu entwickeln.

Praktikabler, realistischer und effektiver ist aus Sicht der Autoren jedoch, aus der Rolle und Position jedes einzelnen Unternehmens heraus die eigenen Netzwerkfähigkeiten im direkt angrenzenden Partnernetzwerk zu optimieren – und zwar sowohl in Richtung Kunde, als auch in Richtung der Lieferanten.

Laut der Studienautoren sollte hierbei der Schwerpunkt auf die Integration der externen Partner gelegt werden und nicht auf die Ergänzung zusätzlicher Kenntnisse und Fähigkeiten. Denn Letztere sind einfacher und schneller zu kopieren als eine funktionierende und stabile Integration.

Mögliche Beispiele für eine derartige Integration:

  • Möglichst frühzeitige und enge Einbindung der Lieferanten in die Produktentwicklung
  • Einbeziehung von Kunden und Lieferanten in kritische Entscheidungsfindungsprozesse
  • Enge Kopplung und Integration von unternehmensübergreifenden Prozessen zwischen direkt benachbarten Partnern in der Supply Chain

Im 3. Fall gibt das mächtigste und einflussreichste Unternehmen die Prozesse und Randbedingungen seines gesamten digitalen Liefernetzwerkes vor. Dieses Unternehmen wird als ‚Channel Master‘ bezeichnet. Als Beispiel diente hierfür die Firma Chrysler in den 90er Jahren. Das Unternehmen machte damals den Lieferanten der verschiedenen Stufen sehr spezifische Vorgaben und band diese extrem eng in die eigenen Prozesse ein. Die Lieferanten selbst hatten kaum Möglichkeiten, eigene Vorstellungen zu realisieren, zumindest wenn es um die Belieferung von Chrysler ging.

Status heute

Die Automobilindustrie von heute kann wohl als Mischung von Fall 2 und Fall 3 eingestuft werden: Einige Unternehmen – vor allem die OEMs – machen ihren Lieferanten sehr spezifische Vorgaben, wenn es um die Supply-Chain-bezogenen Prozesse geht. Diese müssen die Lieferanten einhalten und umsetzen, wenn diese keine umfangreichen Geschäftseinbußen riskieren wollen.

In beiden Fällen scheint jedoch eine möglichst enge prozessuale Vernetzung mit den direkt angrenzenden Partnern dem eigenen Unternehmen im jeweiligen Liefernetzwerk direkte Vorteile zu verschaffen. Diese können von direkten Konkurrenten schwieriger und nur langsamer aufgeholt werden als individuelle Fähigkeiten, die zusätzlich erworben wurden.

Zusammenfassend lässt sich feststellen: In der Fertigungsindustrie mit seinen großen Teilbranchen, also z.B. der Automobilindustrie, dem Maschinen- und Anlagenbau und dem Luft- und Raumfahrtsektor, trifft das Paradigma der gegeneinander konkurrierenden Lieferketten (‚Supply Chain vs. Supply Chain‘) nicht oder nur mit der Einschränkung zu, dass der Wettbewerb auf dem Gebiet der Liefernetzwerk-Fähigkeiten stattfindet (Fall 2, siehe oben).

Was kann ein fertigendes Unternehmen tun, um die Effizienz seiner Supply Chain und die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern?

Folgt man den in der Studie postulierten Ansätzen, so gilt: Jedes einzelne Unternehmen sollte aus seiner Position und Rolle heraus möglichst konkrete Optimierungen mit seinen direkt angrenzenden Partnern im Liefernetzwerk (also Kunden und Lieferanten) anstreben. Diese Überlegung mündet in der Hypothese, dass sich die effizienteren, transparenteren und schnelleren Netzwerkbereiche im Wettbewerb mit den weniger guten Teilen gewisse Vorteile verschaffen können. Folglich könnten sich Firmen, die mehr überdurchschnittlich guten Netzwerken angehören, in Summe besser behaupten.

Was lässt sich daraus nun konkret schließen? Da Unternehmen meist mehreren Industrien und unterschiedlichen Netzwerken angehören, sollten sie ihre unternehmensübergreifenden Supply-Chain-Prozesse in möglichst umfangreichem Maße aus ihrer eigenen Rolle und Position heraus optimieren – und zwar sowohl in Richtung der direkt angrenzenden Kunden, als auch mit den eigenen Lieferanten.

Weiterhin ist anzuraten, diesen Partnern die Vorteile verbesserter digitaler Supply-Chain-Prozesse aufzuzeigen, damit diese ihrerseits entsprechende Verbesserungen initiieren und realisieren. Erfolgreich praktiziert entstehen im Netzwerk zunächst wettbewerbsfähigere Einzelunternehmen, danach leistungsfähigere Netzwerkteile, und letztendlich ganze regionale Branchen, die sich im Wettbewerb besser behaupten können.

Beispiel AirSupply

Best Practice AirSupply: Die Plattform wird über bis zu vier Stufen hinweg im Liefernetzwerk für die digitale Zusammenarbeit eingesetzt
Best Practice AirSupply: Die Plattform wird über bis zu vier Stufen hinweg im Liefernetzwerk für die digitale Zusammenarbeit eingesetzt

Beispiele dieser Art gibt es bereits, und besonders vielversprechend sind Projekte, die vom OEM ausgehen. So hat Airbus vor einigen Jahren erkannt, dass sich die europäische Luft- und Raumfahrtbranche vom nordamerikanischen Luftfahrtsektor positiv abheben kann, wenn es die Vielzahl an individuellen digitalen Supply-Chain-Lösungen durch eine einheitliche Kollaborationslösung ersetzt. Der Clou: Diese steht nicht nur den großen OEMs zur Verfügung, sondern kann an jedem Knotenpunkt der Inbound Supply Chain genutzt werden. Einzige Voraussetzung hierfür ist, dass die Beschaffungsprozesse passen und einen sehr kollaborativen Charakter haben.

Im Jahre 2009 hat man sich dann zur Entwicklung einer einheitlichen Lösung – AirSupply – entschlossen. Diese ist mittlerweile seit über sechs Jahren in Betrieb und wird mittlerweile von rund 2.000 Aerospace-Unternehmen erfolgreich genutzt. Mittlerweile kommt die Plattform teilweise sogar schon auf bis zu vier Stufen der Lieferkette zum Einsatz. Auf diese Weise entstehen standardisierte und einheitliche Best-Practice-Prozesse mit medienbruchfreier einheitlicher Abwicklung in einer ganzen Branche.

Den Originalartikel ‚Supply Chain vs. Supply Chain‘ im SCMR finden Sie hier.

Credits: Der ursprüngliche Blogbeitrag wurde von Werner Busenius am 25. Januar 2015 veröffentlicht. Der Text wurde im Oktober 2017 überarbeitet und aktualisiert.

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